Judenverfolgungen: Die Vernichtung der europäischen Juden

Judenverfolgungen: Die Vernichtung der europäischen Juden
Judenverfolgungen: Die Vernichtung der europäischen Juden
 
Am 20. Januar 1942 fand in der Villa Am Großen Wannsee 56-58 eine Konferenz statt, auf der die praktische Umsetzung und Koordination der »Endlösung der Judenfrage« besprochen wurde. Eingeladen hatte der Leiter des Reichssicherheitshauptamts (RSHA), Reinhard Heydrich. Anwesend waren neben den Staatssekretären der wichtigsten Reichsministerien und hohen Ministerialbeamten Funktionäre des nationalsozialistischen Regimes, darunter Gestapochef Heinrich Müller, Otto Hoffmann vom Rasse- und Siedlungshauptamt (RuSHA), Eberhard Schöngart, der Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) im Generalgouvernement, dem von der Wehrmacht besetzten Polen, sowie Heydrichs »Judenreferent« Adolf Eichmann, der Hauptverantwortliche bei der Organisation der Endlösung.
 
 Konferenzthema: die »Endlösung« der Judenfrage
 
Zu Beginn der Wannseekonferenz erklärte Heydrich, er sei durch Hermann Göring bevollmächtigt, die »Endlösung der Judenfrage« zu koordinieren, ohne Rücksicht auf geographische Grenzen. Nach einem kurzen Überblick über die bisherige Auswanderungspolitik, den er mit dem von Adolf Eichmann zusammengestellten Zahlenmaterial unterlegte, gab er bekannt, dass anstelle der bisher praktizierten Auswanderung nunmehr nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer die Evakuierung der Juden nach dem Osten treten solle. Insgesamt sollten elf Millionen europäischer Juden, darunter auch die englischen und irischen Juden, in den Osten deportiert und zur Arbeit eingesetzt werden. Man werde sie, so Heydrich, »in großen Arbeitskolonnen. .. Straßen bauend in diese Gebiete führen, wobei ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird«. Der »Restbestand«, so Heydrich weiter, werde »entsprechend behandelt werden müssen«, da dieser sonst, wie die Geschichte beweise, »als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen« sei.
 
Was mit der Formulierung »entsprechend behandelt« bezweckt war, wurde von Heydrich nicht näher erläutert. Jedem der Anwesenden dürfte jedoch klar gewesen sein, was damit gemeint war. Die Formulierung entsprach der üblichen Sprachregelung der Einsatzgruppenberichte. Vorgesehen war, das war unmissverständlich, die Tötung aller Juden in Europa. Widerspruch gab es bei den Anwesenden nicht, eher wurde Zustimmung signalisiert. Unterstaatssekretär Martin Luther zum Beispiel gab zu verstehen, dass es seitens des Auswärtigen Amts keine Einwendungen gebe. Und der Vertreter des Generalgouvernements, Staatssekretär Josef Bühler, bat sogar, mit der »Endlösung« im Generalgouvernement zu beginnen, da es dort, so seine Argumente, keine Transportprobleme gebe und die meisten Juden schon arbeitsunfähig seien. Im folgenden Gespräch erläuterte Heydrich die Probleme der vorgesehenen »Endlösung«. Zum einen schlug er die Errichtung eines »Altersgettos« vor, zum anderen die Entsendung von Beratern in die von der Wehrmacht besetzten Länder, die bei den Vorbereitungen zur »Endlösung« helfen sollten. Bei der Erörterung der Frage, wie mit den »Mischehen« umgegangen werden sollte, gab es jedoch unterschiedliche Positionen. Heydrich wollte die »Halbjuden« deportieren, jedoch »Vierteljuden« wie Deutsche respektive wie »Arier« behandeln, vorausgesetzt, sie seien nicht von auffällig »jüdischem« Benehmen. Wilhelm Stuckart wiederum, der am Entwurf der Nürnberger Gesetze von 1935 wesentlich beteiligt war und mit Adenauers späterem Staatssekretär Hans Globke 1936 einen maßgeblichen Kommentar zur deutschen Rassen-Gesetzgebung verfasst hatte, plädierte für Zwangsscheidungen und zog die Zwangssterilisation der »Halbjuden« ihrer Deportation vor.
 
Es ist heute unbestritten, dass die Wannseekonferenz dazu gedient hat, die Maßnahmen der beteiligten Dienststellen zu koordinieren, die außerhalb Heydrichs Machtbereich lagen. Die Teilnehmer der Konferenz wussten, dass die systematische Ermordung von Juden aus dem Reichsgebiet bereits im November 1941 eingesetzt und die Vorbereitungen zum Aufbau der Vernichtungslager Chełmno (Culm, im Warthegau) und Bełżec (im Generalgouvernement) begonnen hatten. Die Teilnehmer der Konferenz am Wannsee waren sich darüber klar, dass sie von Heydrich nicht deshalb eingeladen worden waren, um über das Ob, sondern über das Wie der »Endlösung« zu sprechen. In seinem Prozess in Jerusalem erklärte Adolf Eichmann, der einst Zuständige für die zentrale Lenkung des Deportationsprozesses, dass auf der Konferenz die verschiedenen Arten der »Lösungsmöglichkeiten«, sprich: der Vernichtungsmethoden, ganz offen besprochen wurden.
 
 Gab Hitler den Befehl?
 
Strittig ist, ob es einen Führerbefehl zur Vernichtung der europäischen Juden gegeben hat. Dass es eines solchen Befehls bedurfte, um die Mordmaschinerie in Gang zu setzten, erscheint angesichts der zentralen Rolle Adolf Hitlers im nationalsozialistischen Staat zwingend notwendig. Ein schriftlicher Befehl Hitlers liegt jedoch nicht vor. Bei den Historikern hat sich deshalb zunehmend die Ansicht durchgesetzt, dass Hitler im Sommer 1941 über verschiedene Befehlsstränge mündliche Anweisungen gegeben hat, das Vernichtungsprogramm in Gang zu bringen - dass Hitler nicht gewusst haben soll, was in Auschwitz, Bełżec, Culm (Chełmno), Lublin-Majdanek, Sobibór und Treblinka geschah, ist höchst unwahrscheinlich. Behauptungen dieser Art widersprechen auch Hitlers eigenen Aussagen. In seiner berühmt-berüchtigten Rede am 30. Januar 1939 hatte er bereits angekündigt, was er mit den Juden zu tun gedenke: »Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.«
 
Selbst wenn Hitler keinen schriftlichen Befehl gegeben hat, dürfte das Vorgehen zwischen Himmler und Hitler abgestimmt gewesen sein. Dafür spricht unter anderem eine Vollmacht, die Adolf Eichmann auf Geheiß Heydrichs aufgesetzt und Göring am 31. Juli 1941 unterzeichnet hatte. In dieser Vollmacht, in sorgfältiger Bürokratensprache abgefasst, beauftragte Göring den Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes mit umfassenden Vorbereitungen zur »Gesamtlösung der Judenfrage«. Der Jerusalemer Historiker Yehuda Bauer plädiert dafür, diese Vollmacht als »Version des Führerbefehls« anzusehen.
 
Fest steht, dass mit der Wannseekonferenz ein Prozess äußerster Radikalisierung einsetzte. Wenn zunächst noch Tötung durch Erschießen die Regel war, setzten zu Beginn des Jahres 1942 zunehmend in den Mordverfahren Massentötungen mittels Giftgas ein. Sechs Vernichtungszentren, die sich auf polnischem Boden befanden, waren die Sammelpunkte für Tausende von Transporten mit deportierten Juden von überall her. Innerhalb von drei Jahren betrug die Gesamtzahl der dorthin verschickten Juden fast drei Millionen. Im Herbst 1942 wurde in Auschwitz im Lagerteil Birkenau mit dem Bau von »Krematorien« begonnen, die sowohl Gaskammer wie Leichenverbrennungsanlage enthielten. Der Tötungsablauf sah dann so aus, dass die durch Eichmann nach Auschwitz gelenkten Judentransporte zunächst auf der »Rampe« selektiert wurden. Die für arbeitsfähig erklärten Juden wurden von der Vernichtung ausgenommen, während die anderen ins Gas geführt wurden - Männer, Frauen und Kinder.
 
Insgesamt sind in den Jahren 1941-45 rund fünf bis sechs Millionen europäischer Juden den systematischen Mordaktionen des nationalsozialistischen Regimes zum Opfer gefallen. Die Historiker sind sich heute darin einig, dass es sich dabei nicht nur um einen »brachialen Gewaltakt« (Raul Hilberg) handelte, sondern um den ersten vollendeten Vernichtungsprozess der Weltgeschichte. »Holocaust« oder neuhebräisch »Schoah« ist deshalb die Bezeichnung, die sich in den letzten Jahrzehnten für den Vorgang der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden in den Geschichtsbüchern eingebürgert hat.
 
Prof. Dr. Julius H. Schoeps

Universal-Lexikon. 2012.

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